14 November, 2010

Bürokratenrepublik Deutschland

"Arbeit muss sich wieder lohnen!" Hartz IV dürfe nicht dazu führen, dass es sich Arbeitslose im deutschen Sozialsystem bequem machen. Außenminister Westerwelle meinte im Sozialstaat gar spätrömische Dekadenz erkennen zu können. Nun erachte ich einen FDP-Politiker kaum als Kenner der sozialpolitischen Realität. Wie schwierig und absurd sich diese gestalten kann, wusste die Süddeutsche Zeitung letzten Montag zu berichten (Ausgabe vom 8. November 2010, Seite 3, "Das Versprechen", Autor Detlef Esslinger, nicht online verfügbar).

Geschildert wird der Fall der alleinerziehenden Mutter Judith Schröder aus Dessau, die sich mit damals 30 Jahren dazu entschlossen hatte eine zweite Ausbildung als Pharmazeutisch-Technische Angestellte anzufangen, weil sie in ihrem ersten Ausbildungsberuf Kosmetikerin keine Arbeit fand und Gelegenheitjobs alles andere als ein erfülltes Leben ermöglichten. Mit der Ausbildung fiel sie aus der Zuständigkeit der Agentur für Arbeit und wurde an das Bafög-Amt verwiesen. Allerdings gibt es Bafög nur bis zu einem Alter von 28 Jahren. Zurück bei der Arge Wittenberg muss sie erfahren, dass sie trotzdem kein Hartz IV erhält:
Auch wenn Bafög abgelehnt worden ist, haben Sie keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, weil Sie im Rahmen des Bafög dem Grunde nach förderfähig sind.

Dem Grunde nach hätte sie die Ausbildung hinschmeißen und es sich nun unter der Wohlfühldecke Hartz IV bequem machen können - oder auf Kosten der Arge nach Erfurt ziehen und die gleiche Ausbildung als Umschulung machen können. Denn das hätte die Arge bezahlt, nicht aber die Ausbildung in Dessau. Frau Schröder hat sich dagegen entschieden als Alleinerziehende weg von der Familie zu ziehen und wird die Ausbildung in Dessau beenden. Sie lebt jetzt vom Hartz IV-Anspruch ihrer Tochter, einem Ausbildungsförderungskredit und Unterstützung durch ihre Schwester.

Diesen bürokratischen Irrsinn kann man als Wasser auf die Mühlen der Hartz IV-Kritiker wie Guido Westerwelle auffassen. Oder als ein Beispiel dafür, dass Hartz IV vielleicht doch nicht so angenehm ist, wie es einem Anfang des Jahres angesichts der Diskussionen erscheinen musste. Oder einfach nur als das was es eben ist, bürokratischer Irrsinn.

Bekannt geworden ist der Fall übrigens nur, weil Frau Schröder Anfang September auf einer Veranstaltung mit Sigmar Gabriel, dem Vorsitzenden der SPD, sprechen konnte und dieser versprach sich darum zu kümmern. Nur dass Frau Schröder nichts von Herrn Gabriel oder der SPD mehr gehört hat. Dies aber nur am Rande.

Eines ist auf jeden Fall klar. Eine Diskussion darüber, ob die Hartz IV-Sätze zu hoch oder zu niedrig sind, bringt uns und die Hartz IV-Empfänger nicht weiter. Stattdessen sollten wir uns fragen, warum die Förderung z.B. nicht aus einer Hand (und Kasse) geschieht. Zu unterstellen, dass Hartz IV-Empfänger nicht arbeiten wollen, ist Polemik. Sicher gibt es viele, die sich aufgegeben haben. Und einige, die in der Tat nicht arbeiten wollen und sich im Sozialstaat "eingerichtet" haben. Daran geht aber ein reiches Land wie Deutschland nicht zu Grunde. All denjenigen, die etwas an ihrer Situation ändern wollen, sei es aus Eigeninitiative oder mit Unterstützung, sollten nicht auch noch bürokratische Hürden in den Weg gestellt werden.

18 September, 2010

Die Revolution ist abgesagt

Mit dem Atomausstieg von 2000 konnten die Grünen einen lang gehegten Wunsch in die Tat umsetzen. Der Ausstieg war ideologisch motiviert, ökonomische Überlegungen spielten bei der Ausgestaltung eine ähnlich untergeordnete Rolle wie Sicherheitsaspekte der Atomenergie. Die erlaubten Reststrommengen der einzelnen Kernkraftwerke wurden zwar auf Basis deren Alters festgelegt, können aber zwischen den Kraftwerken untereinander verschoben werden. Die Atomindustrie wusste dies geschickt auszunutzen. So erklärte Jürgen Großmann, Vorstandsvorsitzender von RWE, einem der 4 Betreiber von Atomkraftwerken in Deutschland, in einem Interview Ende 2007:
Wir können den Reaktor in Biblis so fahren, dass wir mit den Restlaufzeiten über die nächste Bundestagswahl kommen. Und dann gibt es vielleicht ein anderes Denken in Bevölkerung und Regierung.


Die Atomindustrie hat dann auch alles unterlassen, was die atomfreundliche Regierungskoalition aus CDU, CSU und FDP noch hätte gefährden können. Zum Dank wurde der Ausstieg aus dem Atomausstieg ohne Prüfung pauschal im Koalitionsvertrag festgeschrieben.



Ein fragwürdiges Gutachten mit einem überraschenden Ergebnis

Ein von der Regierung in Auftrag gegebenes Gutachten sollte nach dem Beschluss noch die Rechtfertigung liefern, gestaltete sich aber mehr als fragwürdig:
Sie vergleichen die Folgen verschiedener Laufzeitverlängerungen mit einem sogenannten Basisszenario, dem bislang geplanten Atomausstieg. Während aber bei allen Verlängerungsszenarien zusätzliche, vom Betrieb der Kernkraftwerke völlig losgelöste Klimaschutzmaßnahmen berücksichtigt werden, finden diese im Basisszenario nicht statt. [..] Tatsächlich gibt es nur einen Schluss: Die Bundesregierung ist gar nicht daran interessiert zu erfahren, ob ihre energie- und klimapolitischen Ziele auch dann erreichbar sind, wenn es beim Atomausstieg bleibt. Den Gutachtern kam die undankbare Rolle zu, dieses Desinteresse quasiwissenschaftlich zu untermauern.


Und doch lässt das Gutachten unterschiedliche Lesarten zu. Während der Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) Unterstützung für längere Laufzeiten aus dem Gutachten herausliest, schließt sich der Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) der Deutung an, dass eine Laufzeitverlängerung entgegen den Schreckenszenarien der Atomlobby keinen nennenswerten Einfluss auf Strompreise und Versorgungssicherheit hätte:
Wer die Zahlen vergleicht, sieht, dass alle vier Szenarien [Laufzeitverlängerung um 4, 12, 20 oder 28 Jahre] die Ziele der Bundesregierung bei der Reduzierung der CO2-Emissionen, beim Ausbau der erneuerbaren Energien und bei der Preiswürdigkeit der Energieversorgung erreichen und dass die Unterschiede nur sehr gering sind.


Durchsetzen konnte sich der Umweltminister allerdings nicht.

Ein fragwürdiger Kompromiss und ein geheimer Vertrag

Der Kompromiss der Regierungskoalition sieht nun eine Laufzeitverlängerung von 8 Jahren für die 7 älteren und von 14 Jahren für die 10 neueren Atomkraftwerke vor (damit im Schnitt von 12 Jahren, wobei allerdings von deutlich längeren Laufzeiten auszugehen ist). Im Ausgleich dafür erklären sich die 4 Atomkraftwerksbetreiber bereit (oder auch nicht), eine neu einzuführende Brennelementesteuer über einen Zeitraum von 6 Jahren zu bezahlen und anschließend in einen Fonds zur Förderung erneuerbarer Energien einzuzahlen. Erneut ohne Berücksichtigung bleiben Sicherheitsauflagen wie der ursprünglich geplante Schutz gegen Flugzeugabstürze oder Sprengstoffanschläge, ganz zu schweigen von der Problematik der Endlagerung und dem Atomlager Asse.

Schlimmer noch: In einem "Geheimvertrag" (die Regierung veröffentlichte den Förderfondsvertrag erst nach mehreren Tagen öffentlichen Drucks) sind die Kosten für Sicherheitsnachrüstungen auf 500 Mio. € pro Kernkraftwerk beschränkt bzw. Mehrkosten können auf die Einzahlungen in den Förderfonds angerechnet werden. Im Vorfeld war bei einer Laufzeitverlängerung von 12 Jahren noch von Kosten von über 20 Mrd. € ausgegangen worden, also rund 1,2 Mrd. € pro Kraftwerk! Stattdessen wird nun selbst der Weiterbetrieb der ältesten und tendenziell unsichersten Kraftwerke mit dem höchsten Nachrüstungsbedarf für die Betreiber noch lukrativ gestaltet. Dass der Minister für Umweltschutz und Reaktorsicherheit - an den Verhandlungen nicht beteiligt - sich im Nachhinein auch noch für den Vertrag nicht zuständig erklärt, bei dem Sicherheit gegen Investitionen in erneuerbare Energien aufgerechnet werden, lässt einen nur noch ratlos und kopfschüttelnd zurück.

Ein fragwürdiger Weg zum vorgeblichen Ziel

Das erklärte Ziel der Regierung ist der Ausbau regenerativer Energien. Indem man sich die Argumentation der Atomlobby zu eigen gemacht hat, wird nun genau das Gegenteil erreicht. Anfang 2010 erklärte der Umweltminister in einer Grundsatzrede zur Umwelt- und Energiepolitik noch:
Das ökonomische Konzept der konventionellen Energieversorgung, hier insbesondere die Grundlastversorgung durch Kernenergie, [ist] ökonomisch nur schwer mit dem weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien vereinbar.


So wird Strom aus erneuerbarer Energie zwar eine Vorzugsbehandlung eingeräumt (Gesetz für den Vorrang Erneuerbarer Energien (EEG)). Weil sich die vier Atomkraftwerksbetreiber aber auch 80% des Strommarktes teilen und sich mit dem Ausbau regenerativer Energien Konkurrenz für ihre eigenen Kraftwerken schaffen würden, treiben sie den Ausbau nicht so voran, wie sie könnten. Der Verdacht geht sogar soweit, dass Atomkonzerne in Projekte wie Offshore-Windparks einsteigen - nur um diese auszubremsen. Im europäischen Ausland dagegen investiert z.B. RWE Innogy massiv in den Bau von Windparks - um sich die dortigen Strommärkte zu erschließen.

Die Alternative

Nun kann man den vier großen Konzernen EnBW, E.ON, RWE und Vattenfall kaum zum Vorwurf machen, dass sie ihre Pfründe sichern. Es unterstreicht aber, wie sehr eine Alternative zur Verlängerung der Kraftwerkslaufzeiten notwendig gewesen wäre. Entscheidend ist dabei nicht, welcher Anteil der erzielten Zusatzgewinne abgeschöpft werden, sondern einzig, ob sich Investitionen in erneuerbare Energien rechnen. Die mittelständischen oder kommunalen Stromversorger wollten in die Lücke hineinwachsen, die das schrittweise Abschalten der Atomkraftwerke hinterlassen hätte. Dafür waren Milliardeninvestitionen geplant, die die Möglichkeit zu mehr Wettbewerb geboten hätten und nun zwangsläufig überdacht werden müssen. Auch der Vorsitzende der Monopolkommission stellt fest, dass der Wettbewerb verhindert wird.

Wenn man schon unbedingt am Atomausstieg rütteln will, dann doch nur, um diesen weniger angreifbar zu machen. Die nun vereinbarte Laufzeitverlängerung ist genauso beliebig und sachlich unbegründet - warum gerade 12 Jahre? - wie der ursprüngliche Atomausstieg. Stattdessen hätte er auf eine vernünftige ökonomische Basis gestellt werden sollen, wobei die Regierung Richtlinien und Mindestanforderungen festlegt wie den Schutz der Atomkraftwerke gegen Flugzeugabstürze und die Übernahme von Technologiefolgekosten; bei der Atomenergie etwa die Bergung des Mülls im Atomlager Asse, die Kosten für die Sicherung der Castortransporte oder die Suche nach einem Endlager. Statt direkt mit ausgewählten Konzernen Verträge abzuschließen, hätte der Markt im Wettbewerb die Laufzeiten der Kraftwerke geregelt. Alte Meiler mit hohem Nachrüstungsbedarf wären schnell abgeschaltet worden, nur neuere Meiler hätten noch länger laufen können, bis auch deren Betrieb ökonomisch unsinnig wird.

Natürlich handelt es sich dabei nicht um einen freien Wettbewerb, weil auch die erneuerbaren Energien massiv mit Subventionen gefördert werden. Das ist aber auch legitim, denn deren Ausbau ist das Ziel - genau wie es früher der Ausbau der Atomenergie war, der über die Jahre mit 165 Mrd. € subventioniert wurde. Innerhalb der vorgegebenen Grenzen sollte aber Wettbewerb zugelassen werden, in den eine Regierung regulierend eingreifen kann. Anpassungen an neue Entwicklungen können später nahezu beliebig erfolgen, ohne aufgrund von Verträgen auf ein paar wenige Marktteilnehmer Rücksicht nehmen zu müssen. Das wäre die ökonomisch vernünftige Antwort auf den ideologisch motivierten Atomausstieg von Rot-Grün gewesen.

Mit ihrer geballten Wirtschaftskompetenz hat die schwarz-gelbe Regierung die Marktmacht der großen Stromversorger nun auf Jahre hin zementiert. Der Atomausstieg von Rot-Grün mag nicht ökonomisch rational gewesen sein, aber vielleicht gerade deswegen revolutionär - der Atomkompromiss ist dagegen eine Rolle rückwärts, ausgerichtet an partiellen Interessen der Atomlobby. Genau deswegen ist die "Revolution in der Energieversorgung" (Angela Merkel, Bundeskanzlerin und Vorsitzende der CDU) konzeptioneller Murks. Hier wurde nicht der Weg in "ein neues Zeitalter in der Energieversorgung" (Horst Seehofer, Vorsitzender der CSU) bereitet, sondern verbaut. Deutschlands Vorreiterrolle in Frage gestellt. Die Revolution abgesagt.

19 July, 2010

Auflösungserscheinungen

Vor sieben Wochen ging es los - mit zwei Paukenschlägen. Roland Kochs Ankündigung seines Rückzugs dürfte noch breite Zustimmung in der Bevölkerung gefunden haben und konnte auch die Lenaseligkeit nicht trüben. Als aber nur wenige Tage später auch noch der Bundespräsident Horst Köhler sein Amt als Reaktion auf Kritik an seinen Äußerungen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr regelrecht beleidigt hinwarf, war Lena trotz ihres Sieges beim Eurovision Song Contest zum Vorteil aller (einschließlich ihrer selbst) zunächst erst einmal kein Thema mehr.

Dabei ging es munter weiter: Ende Juni kündigte Jürgen Rüttgers seinen Rückzug aus der Politik an, nachdem er Anfang Mai die Wahl in Nordrhein-Westfalen verloren hatte. Und nun auch noch Ole von Beust. Dies kann man als Vorwegnahme auf das mögliche (und mittlerweile gewisse) Scheitern der Schulreform sehen. Aber damit hängt laut von Beust der Rücktritt natürlich nicht zusammen. Ach ja, Dieter Althaus ist ebenfalls zurückgetreten und Günther Oettinger wurde nach Europa weggelobt. Eine zufällige Anhäufung von Amtsmüdigkeit? Oder doch Ausdruck allgemeiner Unzufriedenheit? Um das zu ergründen, muss man auf die letzten Jahre zurückblicken.

Schon in der großen Koalition fehlte jegliches Konzept für eine vernünftige Politik. Zum einen hat insbesondere in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode die Weltwirtschaftskrise nicht viel mehr als Reagieren zugelassen. Zum anderen haben damals zwei Koalitionspartner regiert, die nicht wirklich zusammen gepasst haben. Deswegen wurde die große Koalition auch sang- und klanglos abgewählt.

So richtig traurig wird es aber erst mit der Wunschkoalition der idealen Partner von CDU, CSU und FDP. Schon bei den Kaolitionsverhandlungen krachte es gewaltig. Die entscheidenden programmatischen Punkte werden ausgespart. Um so schlimmer die Streitereien seitdem - die bis heute anhalten. Seien es die Verteidigung (Wehrpflicht oder nicht), die Gesundheit (Kopfpauschale oder nicht) oder die Steuern (mehr Netto vom Brutto).

Oder wie sieht es mit den Folgen der Weltwirtschaftskrise aus? Wollte man nicht die nächste Krise verhindern, die Finanzmärkte regulieren? Wenigstens bei diesem Thema muss man sich doch auf eine gemeinsame Linie einigen können. Herausgekommen ist das "sozial ausgewogene" Sparpaket. So schnell wie es die ersten Gegenstimmen gab, konnte man "sozial ausgewogen" nicht einmal aussprechen. Die Koalition ist sich selbst die beste Opposition.

Das schlimmste ist, dass nicht erkennbar ist, wo die Koalition hinmöchte. Es gibt kein Konzept, keinen Plan - von einer Umsetzung braucht man gar nicht zu reden. Barack Obama schafft es gegen erhebliche Widerstände auch in der eigenen Partei eine Gesundheitsreform und eine Finanzreform durchzusetzen. Und Angela Merkel? Sie lässt jegliche Debatten laufen. Und am Ende wird das Schlechteste von allen zusammen gerührt, so dass niemand sein Gesicht verlieren muss.

Selten war die Politik so konzeptlos, aussichtslos und demotivierend. Kein Wunder, dass alle Reißaus nehmen. Dass es auch ganz anders geht, hat Joachim Gauck bewiesen. Er hat den Vorteil sich nicht in der Tagespolitik beweisen zu müssen. Davon einmal abgesehen hat er es geschafft die Leute wieder für Politik zu interessieren, sie mitzureißen - und das fast unabhängig vom politischen Spektrum.

Womit wir wieder beim Bundespräsidenten wären - und der allgemeinen Unzufriedenheit. In die Bundesversammlung wurden dieses Mal zumindest von der Regierungskoalition überwiegend Politiker entsandt und weniger Prominente - sei es aus Zeitnot für die Nominierungen oder eben doch wegen der erwarteten schwierigen Abstimmung. Und trotz der Vorauswahl haben viele die geheime Wahl genutzt, der Regierungskoalition einen Denkzettel auszuteilen, indem sie deren Kandidat Christian Wulff drei Runden drehen ließen. Eines hatte er Joachim Gauck immerhin schon vor der Wahl voraus: Er durfte Lena bei ihrer Ankunft in Hannover nach dem Sieg des Eurovision Song Contests die Hand schütteln.

14 February, 2010

Deutschland. Ein Wintermärchen.

100 Tage Schonfrist werden üblicherweise einer neuen Regierung zur Eingewöhnung und Einarbeitung gewährt. Von der aktuellen Schwarz-Gelben Regierung hieß es allerdings bereits im Vorfeld, dass die soziale Kälte Einzug halten wird in Deutschland. Dabei wurde die SPD gerade wegen des vermeintlichen Verrats an der Stammwählerschaft - Stichwort Hartz IV - aus der Regierung gewählt.

Doch wie sieht es nun aus nach 100 Tagen Schwarz-Gelb? Deutschland steckt fest in seinem Wintermärchen. Es ist der wohl strengste Winter seit 30 Jahren. Dabei verteilt die Regierung Geschenke, dass einem warm ums Herz werden müsste. Während es letztes Jahr noch die Autofahrer waren, sind nun die Familien dran: 20 Euro mehr Kindergeld im Rahmen des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes. Gut, den Hartz-IV-Empfängern wird dieses Geld an anderer Stelle wieder abgezogen. Aber dafür bekommen die Besserverdiener über den Kinderfreibetrag dann ein wenig mehr. Die Folgen werden dabei ähnlich drastisch sein wie die der Abwrackprämie: Da den Kommunen aufgrund der Wirtschaftskrise sowieso schon die Einnahmen aus der Gewerbesteuer fehlen, werden aufgrund dieser zusätzlichen Einnahmeausfälle und Ausgaben etliche kulturelle Einrichtungen die Preise erhöhen oder gleich ganz schließen müssen. Natürlich gibt es auch viele hausgemachte Probleme der Kommunen, doch dieses Gesetz verschärft die Probleme vollkommen unnötig - und die Folgen werden alle Bürger tragen.

Der zweite vieldiskutierte Punkt des Gesetzes ist die Mehrwertsteuerreduzierung für Übernachtungen. Wurde dies zuvor schon als unsinnig erachtet, so begannen die Diskussionen erst richtig, als bekannt wurde, dass CSU und FDP Millionenspenden der Hoteliers kassierten. Man darf es sich nicht so einfach machen und behaupten, die Politik wäre käuflich. Aber gerade die kleinen Parteien müssen den Begehren ihrer Wählergruppen entgegenkommen (kostenpflichtig), um in einer Koalition erkennbar zu bleiben. Dabei hätten nicht erst die Spenden für einen Aufschrei sorgen sollen, sondern schon allein die Tatsache, dass sich die CDU und insbesondere Angela Merkel von ihren kleinen Koalitionspartnern treiben lassen - Führungsschwäche nennt man das. Ganz zu schweigen davon, dass die FDP all ihre finanzpolitische Vernunft eines ausgeglichenen Staatshaushalts und einer Vereinfachung des Steuerrechts über Bord wirft und stattdessen weitere Ausnahmeregelungen und höhere Staatsschulden für die Bedienung ihrer Klientel in Kauf nimmt.

Und sonst? Nichts Genaues weiß man nicht - jedenfalls nicht vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Statt eine klare Linie vorzugeben, darf der Umweltminister Röttgen aus Wahlkampfgründen sogar den geplanten Ausstieg aus dem Atomausstieg wieder in Frage stellen. Ansonsten muss man aber davon ausgehen, dass auch andere Lobbygruppen noch von der Schwarz-Gelben Regierung berücksichtigt werden, seien es Vermieter, Apotheker, die privaten Krankenkassen oder die Pharmaindustrie. Schließlich muss sich Leistung wieder lohnen!

Wer die ganzen Geschenke bezahlen soll, wird also noch nicht bekanntgegeben. Guido Westerwelle hat aber am Beispiel einer Kellnerin mit zwei Kindern schon einmal einen ersten Vorgeschmack gegeben:
Diese Leichtfertigkeit im Umgang mit dem Leistungsgedanken besorgt mich zutiefst. Die Missachtung der Mitte hat System, und sie ist brandgefährlich. Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.

Sehr schön! Endlich werden die dekadenten Eliten zur Rechenschaft gezogen! Die Banker müssen ihre Millionenboni zurückzahlen und die Steuerflüchtlinge dürfen ihr Geld gleich auf den Marktplätzen der Republik verteilen - am besten direkt an die Kellnerin. Doch weit gefehlt! Statt auf die da oben zu schimpfen, soll die Kellnerin nach unten treten. Welche Dekadenz ausgerechnet bei Hartz-IV-Empfängern vorherrschen soll, weiß auch nur Westerwelle allein. Stattdessen stellt sich doch die Frage, was man Hartz-IV-Empfängern außer Geld und Würde noch nehmen soll.

Hartz IV war ein notwendiges Gesetz, wenn auch schlecht und teilweise verfassungswidrig umgesetzt. Nur hat dieses und andere Gesetze eben auch zu einem Ausbau des Niedriglohnsektors geführt. Aus der finanziellen Annäherung zwischen Arbeitnehmern und Sozialleistungsempfängern zu schließen, dass man den Zugang zu Sozialleistungen noch stärker einschränken müsse, ist vermessen - oder ein Kotau vor der Wirtschaft. Wie wäre es stattdessen mit der Einschränkung von Lohndumping? Mit der Auslagerung von Arbeitnehmern an Zeitarbeitsfirmen werden weder Arbeitsplätze noch die internationale Konkurrenzfähigkeit gesichert, sondern nur die Kaufkraft der Arbeitnehmer reduziert oder sogar die Sozialkassen belastet.

Ja, Leistung muss sich wieder lohnen! Wer arbeiten geht, sollte nur in Ausnahmefällen auf Hartz IV angewiesen sein müssen. Schon deswegen muss der gesetzliche Mindestlöhne eingeführt werden. Fast alle europäischen Staaten leisten sich diesen "Luxus".

Den Empfängern von Sozialleistungen ist nicht mit Generalverurteilung und Stigmatisierung geholfen. Die meisten haben sich ihre Situation nicht ausgesucht und würden diese auch gern wieder ändern. Zwar wird es immer auch Negativbeispiele geben, doch diese kann sich ein wohlhabendes Land wie Deutschland leisten. Mit geistiger Brandstiftung erzeugt man jedenfalls kein wärmendes Feuer.