14 November, 2010

Bürokratenrepublik Deutschland

"Arbeit muss sich wieder lohnen!" Hartz IV dürfe nicht dazu führen, dass es sich Arbeitslose im deutschen Sozialsystem bequem machen. Außenminister Westerwelle meinte im Sozialstaat gar spätrömische Dekadenz erkennen zu können. Nun erachte ich einen FDP-Politiker kaum als Kenner der sozialpolitischen Realität. Wie schwierig und absurd sich diese gestalten kann, wusste die Süddeutsche Zeitung letzten Montag zu berichten (Ausgabe vom 8. November 2010, Seite 3, "Das Versprechen", Autor Detlef Esslinger, nicht online verfügbar).

Geschildert wird der Fall der alleinerziehenden Mutter Judith Schröder aus Dessau, die sich mit damals 30 Jahren dazu entschlossen hatte eine zweite Ausbildung als Pharmazeutisch-Technische Angestellte anzufangen, weil sie in ihrem ersten Ausbildungsberuf Kosmetikerin keine Arbeit fand und Gelegenheitjobs alles andere als ein erfülltes Leben ermöglichten. Mit der Ausbildung fiel sie aus der Zuständigkeit der Agentur für Arbeit und wurde an das Bafög-Amt verwiesen. Allerdings gibt es Bafög nur bis zu einem Alter von 28 Jahren. Zurück bei der Arge Wittenberg muss sie erfahren, dass sie trotzdem kein Hartz IV erhält:
Auch wenn Bafög abgelehnt worden ist, haben Sie keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, weil Sie im Rahmen des Bafög dem Grunde nach förderfähig sind.

Dem Grunde nach hätte sie die Ausbildung hinschmeißen und es sich nun unter der Wohlfühldecke Hartz IV bequem machen können - oder auf Kosten der Arge nach Erfurt ziehen und die gleiche Ausbildung als Umschulung machen können. Denn das hätte die Arge bezahlt, nicht aber die Ausbildung in Dessau. Frau Schröder hat sich dagegen entschieden als Alleinerziehende weg von der Familie zu ziehen und wird die Ausbildung in Dessau beenden. Sie lebt jetzt vom Hartz IV-Anspruch ihrer Tochter, einem Ausbildungsförderungskredit und Unterstützung durch ihre Schwester.

Diesen bürokratischen Irrsinn kann man als Wasser auf die Mühlen der Hartz IV-Kritiker wie Guido Westerwelle auffassen. Oder als ein Beispiel dafür, dass Hartz IV vielleicht doch nicht so angenehm ist, wie es einem Anfang des Jahres angesichts der Diskussionen erscheinen musste. Oder einfach nur als das was es eben ist, bürokratischer Irrsinn.

Bekannt geworden ist der Fall übrigens nur, weil Frau Schröder Anfang September auf einer Veranstaltung mit Sigmar Gabriel, dem Vorsitzenden der SPD, sprechen konnte und dieser versprach sich darum zu kümmern. Nur dass Frau Schröder nichts von Herrn Gabriel oder der SPD mehr gehört hat. Dies aber nur am Rande.

Eines ist auf jeden Fall klar. Eine Diskussion darüber, ob die Hartz IV-Sätze zu hoch oder zu niedrig sind, bringt uns und die Hartz IV-Empfänger nicht weiter. Stattdessen sollten wir uns fragen, warum die Förderung z.B. nicht aus einer Hand (und Kasse) geschieht. Zu unterstellen, dass Hartz IV-Empfänger nicht arbeiten wollen, ist Polemik. Sicher gibt es viele, die sich aufgegeben haben. Und einige, die in der Tat nicht arbeiten wollen und sich im Sozialstaat "eingerichtet" haben. Daran geht aber ein reiches Land wie Deutschland nicht zu Grunde. All denjenigen, die etwas an ihrer Situation ändern wollen, sei es aus Eigeninitiative oder mit Unterstützung, sollten nicht auch noch bürokratische Hürden in den Weg gestellt werden.