Mit dem
Atomausstieg von 2000 konnten die Grünen einen lang gehegten Wunsch in die Tat umsetzen. Der Ausstieg war ideologisch motiviert, ökonomische Überlegungen spielten bei der Ausgestaltung eine ähnlich untergeordnete Rolle wie Sicherheitsaspekte der Atomenergie. Die erlaubten Reststrommengen der einzelnen Kernkraftwerke wurden zwar auf Basis deren Alters festgelegt, können aber zwischen den Kraftwerken untereinander verschoben werden. Die Atomindustrie wusste dies
geschickt auszunutzen. So erklärte Jürgen Großmann, Vorstandsvorsitzender von RWE, einem der 4 Betreiber von Atomkraftwerken in Deutschland, in einem
Interview Ende 2007:
Wir können den Reaktor in Biblis so fahren, dass wir mit den Restlaufzeiten über die nächste Bundestagswahl kommen. Und dann gibt es vielleicht ein anderes Denken in Bevölkerung und Regierung.
Die Atomindustrie hat dann auch alles
unterlassen, was die atomfreundliche Regierungskoalition aus CDU, CSU und FDP noch hätte gefährden können. Zum Dank wurde der
Ausstieg aus dem Atomausstieg ohne Prüfung pauschal im
Koalitionsvertrag festgeschrieben.
Ein fragwürdiges Gutachten mit einem überraschenden ErgebnisEin von der Regierung in Auftrag gegebenes
Gutachten sollte nach dem Beschluss noch die Rechtfertigung liefern,
gestaltete sich aber mehr als fragwürdig:
Sie vergleichen die Folgen verschiedener Laufzeitverlängerungen mit einem sogenannten Basisszenario, dem bislang geplanten Atomausstieg. Während aber bei allen Verlängerungsszenarien zusätzliche, vom Betrieb der Kernkraftwerke völlig losgelöste Klimaschutzmaßnahmen berücksichtigt werden, finden diese im Basisszenario nicht statt. [..] Tatsächlich gibt es nur einen Schluss: Die Bundesregierung ist gar nicht daran interessiert zu erfahren, ob ihre energie- und klimapolitischen Ziele auch dann erreichbar sind, wenn es beim Atomausstieg bleibt. Den Gutachtern kam die undankbare Rolle zu, dieses Desinteresse quasiwissenschaftlich zu untermauern.
Und doch lässt das Gutachten
unterschiedliche Lesarten zu. Während der Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) Unterstützung für längere Laufzeiten aus dem Gutachten herausliest,
schließt sich der Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) der Deutung an, dass eine Laufzeitverlängerung entgegen den
Schreckenszenarien der Atomlobby keinen nennenswerten Einfluss auf Strompreise und Versorgungssicherheit hätte:
Wer die Zahlen vergleicht, sieht, dass alle vier Szenarien [Laufzeitverlängerung um 4, 12, 20 oder 28 Jahre] die Ziele der Bundesregierung bei der Reduzierung der CO2-Emissionen, beim Ausbau der erneuerbaren Energien und bei der Preiswürdigkeit der Energieversorgung erreichen und dass die Unterschiede nur sehr gering sind.
Durchsetzen konnte sich der Umweltminister allerdings nicht.
Ein fragwürdiger Kompromiss und ein geheimer VertragDer
Kompromiss der Regierungskoalition sieht nun eine Laufzeitverlängerung von 8 Jahren für die 7 älteren und von 14 Jahren für die 10 neueren Atomkraftwerke vor (damit im Schnitt von 12 Jahren, wobei allerdings von
deutlich längeren Laufzeiten auszugehen ist). Im Ausgleich dafür erklären sich die 4 Atomkraftwerksbetreiber bereit (
oder auch nicht), eine neu einzuführende Brennelementesteuer über einen Zeitraum von 6 Jahren zu bezahlen und anschließend in einen Fonds zur Förderung erneuerbarer Energien einzuzahlen. Erneut ohne Berücksichtigung bleiben Sicherheitsauflagen wie der ursprünglich geplante Schutz gegen
Flugzeugabstürze oder
Sprengstoffanschläge, ganz zu schweigen von der Problematik der Endlagerung und dem
Atomlager Asse.
Schlimmer noch: In einem "Geheimvertrag" (die Regierung veröffentlichte den
Förderfondsvertrag erst
nach mehreren Tagen öffentlichen Drucks) sind die Kosten für Sicherheitsnachrüstungen auf
500 Mio. € pro Kernkraftwerk beschränkt bzw. Mehrkosten können auf die Einzahlungen in den Förderfonds angerechnet werden. Im Vorfeld war bei einer Laufzeitverlängerung von 12 Jahren noch von
Kosten von über 20 Mrd. € ausgegangen worden, also rund 1,2 Mrd. € pro Kraftwerk! Stattdessen wird nun selbst der Weiterbetrieb der ältesten und tendenziell unsichersten Kraftwerke mit dem höchsten Nachrüstungsbedarf für die Betreiber noch lukrativ gestaltet. Dass der Minister für Umweltschutz und Reaktorsicherheit -
an den Verhandlungen nicht beteiligt - sich im Nachhinein auch noch für den Vertrag nicht zuständig erklärt, bei dem Sicherheit gegen Investitionen in erneuerbare Energien aufgerechnet werden, lässt einen nur noch ratlos und kopfschüttelnd zurück.
Ein fragwürdiger Weg zum vorgeblichen ZielDas erklärte Ziel der Regierung ist der Ausbau regenerativer Energien. Indem man sich die Argumentation der Atomlobby zu eigen gemacht hat, wird nun genau das Gegenteil erreicht. Anfang 2010 erklärte der Umweltminister in einer
Grundsatzrede zur Umwelt- und Energiepolitik noch:
Das ökonomische Konzept der konventionellen Energieversorgung, hier insbesondere die Grundlastversorgung durch Kernenergie, [ist] ökonomisch nur schwer mit dem weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien vereinbar.
So wird Strom aus erneuerbarer Energie zwar eine Vorzugsbehandlung eingeräumt (
Gesetz für den Vorrang Erneuerbarer Energien (EEG)). Weil sich die vier Atomkraftwerksbetreiber aber auch
80% des Strommarktes teilen und sich mit dem Ausbau regenerativer Energien Konkurrenz für ihre eigenen Kraftwerken schaffen würden,
treiben sie den Ausbau nicht so voran, wie sie könnten. Der
Verdacht geht sogar soweit, dass Atomkonzerne in Projekte wie Offshore-Windparks einsteigen - nur um diese auszubremsen. Im europäischen Ausland dagegen investiert z.B. RWE Innogy massiv in den Bau von Windparks - um sich die dortigen
Strommärkte zu erschließen.
Die AlternativeNun kann man den vier großen Konzernen EnBW, E.ON, RWE und Vattenfall kaum zum Vorwurf machen, dass sie ihre Pfründe sichern. Es unterstreicht aber, wie sehr eine Alternative zur Verlängerung der Kraftwerkslaufzeiten notwendig gewesen wäre. Entscheidend ist dabei nicht, welcher Anteil der erzielten Zusatzgewinne abgeschöpft werden, sondern einzig, ob sich
Investitionen in erneuerbare Energien rechnen. Die
mittelständischen oder kommunalen Stromversorger wollten in die Lücke hineinwachsen, die das schrittweise Abschalten der Atomkraftwerke hinterlassen hätte. Dafür waren
Milliardeninvestitionen geplant, die die Möglichkeit zu mehr Wettbewerb geboten hätten und nun zwangsläufig überdacht werden müssen. Auch der Vorsitzende der Monopolkommission stellt fest, dass der
Wettbewerb verhindert wird.
Wenn man schon unbedingt am Atomausstieg rütteln will, dann doch nur, um diesen weniger angreifbar zu machen. Die nun vereinbarte Laufzeitverlängerung ist genauso beliebig und sachlich unbegründet -
warum gerade 12 Jahre? - wie der ursprüngliche Atomausstieg. Stattdessen hätte er auf eine vernünftige ökonomische Basis gestellt werden sollen, wobei die Regierung Richtlinien und Mindestanforderungen festlegt wie den Schutz der Atomkraftwerke gegen Flugzeugabstürze und die Übernahme von Technologiefolgekosten; bei der Atomenergie etwa die Bergung des Mülls im Atomlager Asse, die
Kosten für die Sicherung der Castortransporte oder die Suche nach einem Endlager. Statt direkt mit ausgewählten Konzernen Verträge abzuschließen, hätte der Markt im Wettbewerb die Laufzeiten der Kraftwerke geregelt. Alte Meiler mit hohem Nachrüstungsbedarf wären schnell abgeschaltet worden, nur neuere Meiler hätten noch länger laufen können, bis auch deren Betrieb ökonomisch unsinnig wird.
Natürlich handelt es sich dabei nicht um einen freien Wettbewerb, weil auch die erneuerbaren Energien massiv mit Subventionen gefördert werden. Das ist aber auch legitim, denn deren Ausbau ist das Ziel - genau wie es früher der Ausbau der Atomenergie war, der über die Jahre mit
165 Mrd. € subventioniert wurde. Innerhalb der vorgegebenen Grenzen sollte aber Wettbewerb zugelassen werden, in den eine Regierung regulierend eingreifen kann. Anpassungen an neue Entwicklungen können später nahezu beliebig erfolgen, ohne aufgrund von Verträgen auf ein paar wenige Marktteilnehmer Rücksicht nehmen zu müssen. Das wäre die ökonomisch vernünftige Antwort auf den ideologisch motivierten Atomausstieg von Rot-Grün gewesen.
Mit ihrer geballten Wirtschaftskompetenz hat die schwarz-gelbe Regierung die Marktmacht der großen Stromversorger nun auf Jahre hin zementiert. Der Atomausstieg von Rot-Grün mag nicht ökonomisch rational gewesen sein, aber vielleicht gerade deswegen revolutionär - der Atomkompromiss ist dagegen eine Rolle rückwärts, ausgerichtet an
partiellen Interessen der Atomlobby. Genau deswegen ist die "Revolution in der Energieversorgung" (
Angela Merkel, Bundeskanzlerin und Vorsitzende der CDU) konzeptioneller Murks. Hier wurde nicht der Weg in "ein neues Zeitalter in der Energieversorgung" (
Horst Seehofer, Vorsitzender der CSU) bereitet,
sondern verbaut. Deutschlands Vorreiterrolle in Frage gestellt. Die
Revolution abgesagt.